Botho Strauß : Herkunft

Botho Strauß : Herkunft


Ein Buch der Erinnerung und ein Buch über das Erinnern: Das berührendste und bestürzendste Buch, das wir seit langem in Händen gehalten haben. Unserer Ansicht nach das mit Abstand wichtigste in diesem Herbst. In ihm setzt Botho Strauß sich dem „rohen, unberechenbaren Affekt, dem Anfall oder Ansprung von „‚verlorener Zeit'“ schonungs- und schutzlos aus. Er führt uns nach Ems, den Ort seiner Kindheit, erinnert sich an seinen Vater, der ihm, so lange er lebte, so fremd war, mit dem ihm rückblickend und selber älter werdend aber eine „Moral des Scheiterns“ verbindet, die ein ganz neues Licht wirft auf das, was man an Abgekehrtheit und Weltflüchtigkeit Strauß immer wieder unterstellt und vorgeworfen hat.

Es geht in diesem Text um jene Reue, die „das reinste Wasser der Vergegenwärtigung“ bildet; um Erinnern und um das Gedächtnis, das „eine Variable der Sehnsucht“ bildet. Um das, was gleichsam hinter unserem Rücken unser Leben bestimmt, ohne dass wir es wissen oder wollen; um eine Form der Nachfolge, des Nachlebens und der Wiederholung, die zwar als die reinste Form der Liebe gelten darf, die zugleich aber das Versäumte und Verlorene um so schmerzlicher vergegenwärtigt. Als sein Vater eines Tages mit ihm ins Saarland reist, um dem Sohn sein Geburtshaus in Merzig zu zeigen, reagiert der Junge mit der typischen Ignoranz des Halbwüchsigen. Der sich Erinnernde aber fragt – und wir Leser hören aus diesen beiden Sätzen die Verzweiflung heraus: „Aber was hat er gesagt, als wir dort standen? Was hat er bloß gesagt?“ Erinnerung ist der trostlose Schmerz über das Versäumte. Aber auch eine Form von Nähe, die es in der Gegenwart des Damals nicht geben konnte, Erlösung „von einem langen und oft mühevollen Gegen-über, von unserer beider Gegen-wart.“ Bildet das Gedächtnis eine Variable der Sehnsucht, so besteht dieser Text aus einer Vielzahl jener Kristalle, die sich der linearen zeitlichen Ordnung nicht fügen, als seien sie – so wie einst der Vater – geradezu aus der Zeit gefallen:
„Du blickst in deine Frühe wie in die blaue Kugel des Magiers, betrachtest ein abgetrenntes, umschlossenes Weltlein. Es ist nicht alles organisch, nicht alles Folge und Auffächerung, Fortschritt und Wachstum, was sich Leben nennt. Es bilden sich auch Kristalle: die sammeln und bündeln Strahlen und sind beständiger als Zeitspuren.

Möchtest du wirklich in die Kugel hinein, möchtest Du noch einmal im Einst-Weltlein leben?

Ja, würde ich rufen, sofort! Aber nur so, daß ich es nie wieder verlassen müßte und mir sämtliche erworbene Erfahrung und Entwicklung gelöscht würde. Also nur, wenn verstummt das Gurgeln des nachfragenden, des wiederkäuenden, des erinnernd eiternden Lebens – wo doch des Menschen ganze Natur danach strebt, wie vordem zu sein, also: frei von Erinnerung!“

Und am Ende des Buches heißt es, indirekt auch uns Leser ansprechend: „Aber so ist es im Alter mit den Erinnerungen – sie versetzen uns in einen geradezu erhitzten Zustand, es drängt uns, das Verlorene mit anderen zu teilen, ja wir drängen es sogar Wildfremden auf, doch niemand, niemand kann da mit hinein! Die Kugel mit dem Einst-Weltlein bleibt rundum dein und unzugänglich für jeden anderen.“ Wir stehen mit dem Autor vor oder hinter dem Gitter der Sprache und erfahren und erleben lesend mit, dass unsere Erinnerung lediglich als „Ausscheidungsprodukt des alle Gegenwart vertilgenden Einst“ gelten darf. War der Erzähler in jungen Jahren einst ein „Herr der Möglichkeiten, ein Dunkelprinz“, so ist er als sich Erinnernder heute nur „ein kleiner Schaufelknabe in den Gedächtnishalden“. Wer außer diesem Autor besäße heute den Mut, sich dem, was sich so leicht als Sentimentalität denunzieren ließe, so rückhaltlos auszuliefern und die Rückkehr in die eigene Kindheit als Utopie eines gelingenden restlichen Lebens zu behaupten: „Alle Türen schließen und doch den Rest meiner Jahre am Fenster der Kinderwohnung stehenbleiben und zuschauen, wenn unten in der Straße der Blumencorso vorbeizieht im August, das Fest auf Blütenrädern, und drüben (…) in der Wilhelmsallee der Laternenumzug am St. Martinstag.“ Denn allgegenwärtig mit der Erinnerung sind das eigene Älterwerden und der Tod: „Das Jenseits stellt sich jeder anders vor. Für mich ist’s ebendiese lange Brunnenhalle, ohne Anfang, ohne Ende, in der die stillen freundlichen Geschöpfe endlos kuren und nur von einem einzigen Heilwasser trinken.“

Botho Strauß: Herkunft. Hanser Verlag, geb. 96 Seiten, 14,90 EUR

One Reply to “Botho Strauß : Herkunft”

Comments are closed.

Kategorien

Schlagwörter

Kategorien

Wolkenwörter