Richard Ford : Kanada

Richard Ford : Kanada


Great Falls, Montana 1960: Der 15-jährige Dell lebt zusammen mit seiner Zwillingsschwester Berner und seinen Eltern in der gesichtslosen Kleinstadt im Nordwesten der USA. Er freut sich auf die Schule, will endlich Mitglied des örtlichen Schachclubs werden und interessiert sich für Bienenzucht. Aus all dem wird nichts, denn seine Eltern werden auf dilettantische Weise im benachbarten North Dakota eine Bank überfallen, um eine Schuld von 2.000,– Dollar begleichen zu können, die aus illegalen Geschäften des Vaters stammt. Der Erzähler lässt keinen Zweifel daran, dass dieser Banküberfall jeder inneren oder äußeren Notwendigkeit entbehrt. Darin liegt das Verstörende dieser Geschichte: Die spezifische Wucht und die Unverhältnismäßigkeit der sich in ihr entfaltenden Zerstörungskraft. Die Belanglosigkeit dessen, was die Katastrophen des Lebens auslöst. Die Eltern werden natürlich geschnappt und das, was einmal ein gemeinsames Leben und das Versprechen einer Zukunft war, ist von einem Moment auf den anderen vernichtet. Die Geschwister werden ihre Eltern nach deren Verhaftung noch ein einziges Mal bei einem Gefängnisbesuch sehen. Berner brennt anschließend mit ihrem Freund durch. Dell fügt sich in das Arrangement, das seine Mutter noch kurz vor ihrer Verhaftung für die beiden Geschwister getroffen hat, und wird von einer Freundin der Mutter nach Kanada zu deren Bruder gebracht. Dort wird er Zeuge von zwei Morden. Er bleibt in Kanada, heiratet und wird Lehrer. Die Mutter verübt im Gefängnis Selbstmord. Vom Vater verliert sich nach seiner Entlassung jede Spur. Die beiden Geschwister werden sich in den nächsten 50 Jahren nur noch wenige Male sehen. Das letzte Mal kurz vor Berners Tod. Damit wäre in groben Zügen die Geschichte erzählt. Wer nach der Lektüre des neuen Romans von Richard Ford noch weiter auf das Pfingstwunder des dereinstigen Erscheinens der „Great American Novel“ wartet, der wartet wahrscheinlich vergeblich. Wenn der 65-jährige Dell, der diese Geschichte erzählt, rückblickend über seine Eltern sagt: „Wir haben sie beide geliebt, auch wenn das letztlich nicht ins Gewicht fiel. Das sollte beim Erzählen dieser Geschichte nicht untergehen. Wir haben sie immer geliebt“, dann ist in der Lakonik dieser Sätze so unsentimental wie nur möglich die eindringliche, in seltener Weise berührende und im besten Sinne verstörende Erfahrung zusammengefasst, welche die Lektüre dieses Romans hinterlässt: Dass diese Liebe (von Eltern zu ihren Kindern, von Kindern zu ihren Eltern oder die von Geschwistern zueinander) uns nicht davor schützt, mit einer einzigen unbedachten Handlung unser Leben und das derjenigen Menschen, die wir lieben, zu zerstören. Dass diese Liebe leider nicht ins Gewicht fällt, wenn es darum geht, die Bruchstücke, die „ungleichen Dinge“ unseres Lebens – das, wie Berner an einer Stelle sagt, einem „leer“ geschenkt wird und das wir mit unserer eigenen Geschichte füllen müssen – so zu arrangieren, dass wir damit leben können, ohne zu verzweifeln.

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