Thomas Hettche : Totenberg

Thomas Hettche : Totenberg


Woraus besteht ein Buch? Was heißt Schreiben? Und was bleibt davon? Ein Geröll von Worten, Erinnerungssplittern, Staub oder vielmehr Nichts? In seinem Erzählband Totenberg überliefert Hettche Gespräche mit Menschen, die ihr Leben mit Büchern verbracht haben. Es sind mehrstimmige, fragile Gespräche, in die sich Momente des Schweigens, Momente der Stille, autobiographische Szenen und ästhetische Diskurse fügen, stets gewahr seiend, dass diese Form der Literarizität eingehüllt im digitalen Raum längst einer versunkenen Welt angehört. So folgt er der Literaturprofessorin Christa Bürger in ihrem absinkenden Wohnhaus, unter dem sich ein Bunker befindet. Er besucht Monika Miller im Ernst-Jünger-Haus, die wirkt, als sei sie dort vergessen worden. Wir begegnen der Sylt-Buchhändlerin Henriette Fischer vor einer gespenstischen Kampen-Kulisse, oder dem Altphilologen Manfred Landfester, der dem Verrotten von Papyrus-Schriftrollen zuwartet und auf die Frage, warum man heute noch Altgriechisch lernen sollte, eigentlich keine Antwort weiß. Unversehens führen die Gespräche auf den Dachboden der Kindheit. Eine leere Truhe mit der Aufschrift SUDENTENLAND wird zum Sinnbild dessen, worüber man nicht spricht: die eigene Herkunft und traumatische Vertreibung der Familie. Derselbe Junge im elterlichen Schlafzimmer will wissen, wie es ist, wenn Babys an der Mutterbrust saugen. Als die Mutter ihn mit Seitenblick auf den Vater abwehrt: „Ich begriff nicht, warum, doch dann schämte ich mich plötzlich, und zwar, ohne zu wissen weshalb, für ihre Scham, die widerstandslos in mich hinein sich spiegelte.“ Hettche nimmt das wiederkehrende Ausweichen, Leiserwerden oder Verstummen seiner Gesprächspartner nicht zum Anlass zu insisitieren, sondern blendet sich im Inneren des Textgeschehens wissend die eigene Geschichte ein. Als Susanne Wiesner, die Leiterin eines Adipositaszentrums nach sich selbst befragt, abblockt und nichts, was sie sagt, das ist, „was man in ihren Augen hat sehen können“, erfahren wir etwas über den dicken Jungen in einer leeren Sozialwohnung, der mit einer Flasche Fanta auf einer Campingliege liegt und Gustav Schwabs Griechische Sagen liest, weil er endlich erwachsen sein will und weil ihm einleuchtet, dass Warten mit Lesen zu verbringen sei. Er weiß nicht mehr, was er gelesen und wie lange er auf die Mutter gewartet hat. Er weiß nur, dass funktionierte, was er tat. Die Angst verschwand.
Wenn – mit Derrida gesprochen – das Buch die dialektische Spannung zwischen Sammlung und Zerstreuung hält, eine Weise, die Endlichkeit der eigenen Form mit der Unendlichkeit seines Inhalts zu verknüpfen, dann befindet sich das vorliegende Buch von Thomas Hettche jenseits des Nichts – dort nämlich „befindet sich die Sphäre der Geschenke.“
Thomas Hettche: Totenberg. Essays. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012. 208 Seiten, 18,99 EUR.

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