Ivo Anderlik : Ludwig in the Sky with Diamonds. Ein Tagebuchfragment.

Ivo Anderlik : Ludwig in the Sky with Diamonds. Ein Tagebuchfragment.


Wenn es wahr ist, dass jeder von jedem nur sechs Klicks entfernt ist, also jeder jeden über sechs Ecken irgendwie kennt. Wenn diese Wahrscheinlichkeit auch auf ihn statistisch zutrifft: „Wieso kann ich aus dem Abspann von vier, fünf, sechs Kurzfilmen keinen einzigen der aufgeführten Namen meinem Bekanntenkreis zuordnen? Kein Produktionsfahrer (der letzte Film zählte allein 35 Fahrer), keine Cutter-Assistentin, kein Skript-Editor, nicht einmal ein Kabelaufwicklerhelferlein, dessen Name mir auch nur im Entferntesten bekannt vorkommt. Und das waren alles deutsche Kurzfilme mit gigantischen Crews und die Abspänne waren sehr sehr lang.“ Ludwig, die verlorene Verfasserfigur aus Anderliks verwirrendem Tagebuchfragment, geht gerne auf ambitionierte Filmfestivals, treibt sich in Buchhandlungen, auf Ausstellungen und im Netz herum. Als er eines Tages herausfinden will, wer ihn so alles googelt – ein frei verfügbares, sehr intelligentes Webalyzer-Tool liefert ihm die IP-Adresse – muss er feststellen, dass es seine eigene IP-Nummer war. Das Ergebnis stürzt den Ich-Erfinder in eine Sinnkrise. Von da an schreibt Ludwig sich nur noch fett und kursiv: Ich habe gedacht, dass ich versuchen müsste, mir selbst etwas Gutes zu tun. Vielleicht sollte ich mir selbst etwas widmen oder einen Abspann schreiben, in dem ich mehrfach vorkomme.“ Ludwig – glücklicherweise erspart uns der Autor die Anführungszeichen – erfindet täglich neue Namen für sich, Pseudonyme, unter denen er sein vielfältiges kreatives Schaffen publik machen würde, von dem er glaubt, dass es kurz vor dem Duchbruch steht. Zufällig gerät er an eine Forschungsgruppe der Medizinischen Hochschule Hannover, die die kreative Wirkung von Psilocybin und LSD untersucht und bewirbt sich als Testperson. Die Euphorie der ersten Sitzungen – Ludwig schreibt wie ein Teufel, erfindet neue Farben, kann plötzlich Töpfern und komponiert Symphonien – scheint dahin, als er wegen Herzrhythmusstörungen aus dem Programm fliegt. Er wendet sich der Pilzkunde zu und wird im Deister fündig. Nach etlichen Selbstversuchen mit halluzinogenen Gewächsen findet Ludwig aus seinen fraktalen Schaffensclouds kaum mehr heraus und – das ist die eigentliche Message, die wir als Leser mitnehmen – entdeckt für sich die „Gnade des Vergessens“. Wann immer Ludwig fortan Filme sieht, durch Buchhandlngen stöbert oder auf DeutschlandRadio experimentelle Musik hört: Vieles kommt ihm bekannt vor, ja, das meiste erscheint ihm sogar so, als könne er seine Urheberschaft nicht abstreiten. Anderlik lässt das Tagebuch seines Helden mit dem Satz schließen: „Alles glitzerte. Ich behielt mein Wissen für mich und war sehr glücklich.“ Empfehlenswert.
Ivo Anderlik: Ludwig in the Sky with Diamonds. Ein Tagebuchfragment. 284 Seiten geb., mit aufwendigen Faksimiles, Bern 2012, Horizon-Verlag, 138,- EUR.

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