Robert Seethaler : Ein ganzes Leben

Robert Seethaler : Ein ganzes Leben


Ein ganzes Leben erzählen – geht das heute noch? In Form eines Romans, den man (vorschnell) versucht sein könnte als Heimatroman zu bezeichnen? Auf nicht mehr als 155 Seiten? Es geht, wie uns der neue Roman von Robert Seethaler auf eindrucksvolle Weise vorführt. Der Roman erzählt das Leben des Andreas Egger, der im Sommer 1902 als vierjähriger Bub in ein namenloses Alpendorf zum Großbauern Kranzstocker kommt, der ihn als uneheliches Kind einer seiner Schwägerinnen zwar widerwillig in Empfang nimmt, in dem Kind zugleich aber die Möglichkeit sieht, seine sadistischen Neigungen auszuleben. Die Kindheit und Jugend auf dem Kranzstocker-Hof werden für den kleinen Egger zu einem wahren Martyrium. Mit acht Jahren bricht Kranstocker ihm den Oberschenkelknochen, so dass Egger sich fortan „hinkend durchs Leben bewegen“ muss. „Es war als ob sein rechtes Bein immer einen Augenblick länger brauchte als der restliche Körper, als ob es sich vor jedem einzelnen Schritt erst besinnen müsste, ob er eine derartige Anstrengung überhaupt wert wäre.“ Der Bau einer Seilbahn im Tal bringt schließlich nicht nur den Anschluss des Dorfes an die Welt jenseits seiner Grenzen, er ist für Egger auch so etwas wie eine Befreiung. Die nächsten Jahrzehnte wird er für die Firma arbeiten, die darauf spezialisiert ist, Seilbahnen zu bauen. Er lernt Marie kennen. Die beiden heiraten, erwarten ein Kind. Eine Lawine zerstört die Aussicht auf ein bescheidenes Glück. Egger versucht das Unbegreifliche zu begreifen und weiß zugleich, „dass es nichts zu begreifen gab“. Es folgen acht Jahre in Russland, „davon nicht einmal zwei Monate an der Front, die restliche Zeit in einem Kriegsgefangenenlager“, aus dem Egger 1951 in sein Dorf zurückkehrt. Die Veränderungen um ihn herum nimmt Egger „mit stiller Verwunderung“ hin. Ihm wird mitgeteilt, dass er für die Arbeit an den Seilbahnen „nicht mehr ganz der Richtige“ sei. „Die wenigen Jahre nach dem Krieg hätten genügt, viele der alten Arbeitsabläufe zu überrollen, weshalb es für einen wie ihn bedauerlicherweise keinen Platz mehr gäbe in der Welt der modernen Verkehrstechnik.“ Seethaler benötigt nur einen Satz, um bündig und ohne Sentimentalität oder Anklage die Ambivalenz des sogenannten Fortschritts, als dessen Teil sich Egger einmal voller Stolz fühlen durfte, zusammenzufassen. Ebenso lakonisch fallen die Zusammenfassung und das Fazit dieses ganzen Lebens aus: „Wie alle Menschen hatte auch er während seines Lebens Vorstellungen und Träume in sich getragen. Manches davon hatte er sich selbst erfüllt, manches war ihm geschenkt worden. Vieles war unerreichbar geblieben oder war ihm, kaum erreicht, wieder aus den Händen gerissen worden. Aber er war immer noch da. Und wenn er in den Tagen nach der ersten Schneeschmelze morgens über die taunasse Wiese vor seiner Hütte ging und sich auf einen der verstreuten Flachfelsen legte, in seinem Rücken den kühlen Stein und im Gesicht die ersten warmen Sonnenstrahlen, dann hatte er das Gefühl, dass vieles doch gar nicht so schlecht gelaufen war.“ Wir Leser halten inne und fragen uns: Muss man mehr Aufhebens um sein Leben machen? Und was braucht es, um auf das eigene Leben „ohne Bedauern zurückzublicken, mit einem abgerissenen Lachen und einem einzigen, großen Staunen.“

Robert Seethaler: Ein ganzes Leben. 160 Seiten geb. Hanser Berlin, 17,90 €

 

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