Avner Werner Less : Lüge! Alles Lüge! Aufzeichnungen des Eichmann-Verhörers

Avner Werner Less : Lüge! Alles Lüge! Aufzeichnungen des Eichmann-Verhörers


Der Mann, der über Monate Adolf Eichmann verhört hat, 275 Stunden lang, war ein deutscher Jude. Sein Name war Avner Werner Less. Mit der Machtübernahme der Nazis 1933 flieht er als 16jähriger nach Paris, heiratet zwei Jahre später eine ebenfalls geflohene Jüdin, die Hamburgerin Vera Gonsiorowski. Die beiden wandern 1938 nach Tel Aviv aus. Less arbeitet zunächst als Orangenpflücker in Hadera, und gelangt über die britische Mandatsverwaltung, für die er als Hilfspolizist und danach als Preiskontrolleur in Haifa arbeitet, in den israelischen Staatsdienst und wird zum Polizeioffizier in der Abteilung für Wirtschaftsverbrechen befördert. Seine Frau bringt einen Sohn zur Welt und leidet schwer an Polio. Alle ihre Familienangehörigen in Deutschland werden von den Nazis ermordet. Less‘ Vater wird 1943 von Eichmanns Dienststelle mit einem der letzten Berliner Züge nach Auschwitz deportiert.

Im März 1960, drei Monate bevor der israelische Geheimdienst Mossad Eichmann aus Argentinien entführt, bekommt Less von seinen Vorgesetzten Bücher über die Naziverbrechen. Warum wird ein Spezialist für Wirtschaftskriminalität zum Eichmann-Verhörer bestimmt? Zum einen suchte man jemanden, der die deutsche Sprache mindestens so gut beherrscht wie Eichmann. Zum anderen, so schreibt Stangneth, sei die Entscheidung visionär gewesen, da «kaum eine Kategorie besser zur Beschreibung des ‹Dritten Reiches› taugt als das gesellschaftskorrumpierende Phänomen mafiöser Strukturen». 

Less sieht seine Aufgabe darin, Eichmann überhaupt zum Sprechen zu bringen. Er, den nur ein Tisch von dem Mörder seines Vaters trennt, versucht Eichmanns Vertrauen aufzubauen, bietet dem Kettenraucher Zigaretten an und spricht ihn mit «Herr Eichmann» an, ein Vorgehen, das ihn innerhalb des Zirkels von Mitarbeitern zunehmend isoliert. Man wirft ihm vor, er würde Eichmann insgeheim bewundern und er sei Opfer des «Stockholm-Syndroms» geworden. Tatsächlich ist es umgekehrt: Eichmann, der anfangs ein Nervenbündel ist und jederzeit damit rechnet, liquidiert zu werden, fühlt sich bei Less sicher. Der zuständige Gefängnisarzt stellt überrascht fest, dass sich Puls und Blutdruck des Gefangenen normalisieren, sobald er mit Less sprechen darf. «So wirke ich auf ihn wie eine Beruhigungspille!», notiert Less am 12. Juni 1960. 

«Ich war ein Niemand, völlig ohne Einfluss, tat nichts, habe nie getötet, und im Übrigen, wo und wenn ich etwas gemacht haben sollte, so handelte ich nur auf Grund eines Führerbefehls, dem man sich nicht entziehen durfte und konnte, da man ja von klein auf zu Kadavergehorsam erzogen worden ist.» – So charakterisiert Less in seinem Tagebuch Eichmanns Verteidigungsstrategie. Less allerdings gewinnt zunehmend den Eindruck, es mit einem noch immer überzeugten Nazi zu tun zu haben, der krampfhaft versucht, den Mythos des kleinen Transportoffiziers zu verbreiten. Das Ausmass von Eichmanns Selbstverleugnung macht ihn schließlich nur noch wütend: «Lüge!!! Alles Lüge!!!», notiert er an den Rand des Verhör-Protokolls. 

Mit Blick auf Hannah Arendts Buch «Eichmann in Jerusalem» und ihrem Begriff von der «Banalität des Bösen» schimpft Less – wohl nicht ganz ohne Neid – «Ihnen allen gelang es, in blendendem Stil und dicken Wälzern uns zu beweisen, wer Eichmann nicht war». Less glaubt, dass es Eichmann gelungen sei, als «normalen» Menschen und unbedeutenden Bürokraten zu inszenieren und dass ihm die Weltöffentlichkeit auf dem Leim gegangen sei. 

Es gehört zu den tragischen Versäumnissen der 70er Jahre, dass Less, der Eichmanns Verhalten, seine Gedanken und seinen Ekel während der Verhöre akribisch protokolliert, zeit seines Lebens ein Buch über Eichmann vorlegen wollte, im deutschsprachigen Raum dafür aber nie einen Verleger fand. «Ich habe das Gefühl», schreibt Less enttäuscht in einem Brief, «dass die BRD noch immer nicht reif für ein Eichmann-Buch ist». 

In der vorliegenden Zusammenstellung aus Briefen, Gedichten, Protokollen, Aufzeichnungen und Interviews ist es Bettina Stangneth auf bewundernswerte Weise gelungen, diese biografische und historische Lücke zu schließen. 

Avner Werner Less: Lüge! Alles Lüge! Aufzeichnungen des Eichmann-Verhörers, Rekonstruiert von Bettina Stangneth, Arche-Verlag, Zürich 2012. 352 Seiten, 19.95 EUR.

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