Jacques Derrida : Geschlecht III. Geschlecht, Rasse, Nation, Menschheit.

Jacques Derrida : Geschlecht III. Geschlecht, Rasse, Nation, Menschheit.


Mit Geschlecht III erscheint die lang erwartete, verschollen geglaubte Transkription eines Seminars, das Derrida von 1984 bis 1985 unter dem Titel «Philosophische Nationalität und philosophischer Nationalismus» gehalten hat.
Ob Pandemie, die Gender-Debatten, der Gesetzesgrund von Rasse, idenditätspolitische Sprechverdikte – es gibt wohl kaum einen Diskurs, bei man sich nicht eine Wortmeldung, eine seitenlange Fußnote, eine tanzende Denkfigur vom Schlage Derridas wünschte, wenngleich eine solche Einmischung stets die Bedingungen unseres Sprechens strapazierte, und damit unsere Erwartungshaltungen von Titeln zum Gegenstand hätte. So auch im vorliegenden Band, in dem es um das Lesen geht.

Derrida liest, wie Heidegger Trakl liest, um zu fragen, ob und wie sich Heidegger in den metaphysischen Schlingen verfängt, die er selbst auslegt. Geschlecht III geht der Frage nach: Wie lässt sich Heideggers Position durch seine eigenwilligen Trakl-Interpretation verstehen?

Im Kontext einer umfassenderen Auseinandersetzung mit dem Problem der philosophischen Nationalität und des philosophischen Nationalismus zeigt Derrida, wie Heidegger nach dem Zweiten Weltkrieg eine Neuausrichtung seiner philosophischen Politik und seiner Selbstpräsentation vollzieht. Im Rahmen dieser Neuausrichtung bewegt sich Heidegger nach 1945 vom Hausdichter Hölderlin hin zu Trakl und versucht die Rede vom Völkischen, vom deutschen Volk durch die ambivalente Rede vom «Geschlecht» zu ersetzen und scheint dabei zwar kosmopolitisch vom Menschengeschlecht sprechen zu wollen, unterschlägt jedoch, dass das Deutsche (als das Haus des seins) weiterhin für ihn Vorrang genießt. Das Wort Geschlecht bleibt, wie Derrida zeigt, selbst das Kollektivum all jener «Schläge, all jeder Richtungen und Bedeutungen, in die es «eingeschlagen» ist. 

 Ausgehend von Kant und Fichte und dem mehrdeutigen Begriff »Geschlecht« befragt Derrida einen spezifisch deutschen Nationalismus, der auf eine ebenso unentwirrbare wie einmalige Weise mit philosophischen Konzepten von Rasse, Geschlecht und Menschheit verbunden ist. Nicht zuletzt wirft das nun posthum veröffentliche Vorlesungsmanuskript immer wieder die Frage nach der anhaltenden oder wiederkehrenden Wirkmächtigkeit von Heideggers Texten auf – und begibt sich damit auch auf den Weg einer Bestimmung der gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Lage und einem unabschließbaren, behutsamen Ethos der Re-Lektüre. Es ist dieser Ethos, ein Ethos unerbittlicher Genauigkeit, der jede der Sitzungen in Geschlecht III durchzieht, in denen Derrida die Gewalt aufdeckt, die von jeder standhaften Verteidigung des Geschlechts-Begriff autorisiert wird: sei es der Gedanke über die Tierart, eine Rasse, ein sexuelles Geschlecht, eine Nation, eine Abstammung.

Wichtiger noch als das, was dieser Band über Heideggers Lesart von Trakl sagt, ist daher vielleicht das, was an politischer diskursiver Kraft in ihm schlummert: die Auffoderung, gerade jetzt, da die Diskussion um geschlechtliche Diversität und kulturelle Identität von Neuem entflammt, Derrida von Neuem zu lesen.

 

Jacques Derrida: Geschlecht III. Geschlecht, Rasse, Nation, Menschheit. Hg. von Geoffrey Bennington, Katie Chenoweth und Rodrigo Therezo. Aus dem Französischen von Johannes Kleinbeck und Oliver Precht. TURIA + KANT, Wien-Berlin 2021, 187 Seiten, 24 EUR.

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