Tomas Espedal : Wider die Natur

Tomas Espedal : Wider die Natur


Der Anfang – ein bekanntes Sujet: Älterer Mann trifft junge Frau. Die junge Frau, der ältere Mann. Die Geschichte von Abaelard und Heloise. Der Tod und das Mädchen. Espedal rollt die Geschichte von beiden Enden neu auf. Er ist achtundvierzig Jahre und doppelt so alt wie sie. Er könnte ihr Vater, sie könnte seine Tochter sein, und sie hat beschlossen, sich ihm hinzugeben. In dieser Begegnung zwischen dem Ich-Erzähler und Janne in einer Silvesternacht ist das Kalendarische suspendiert. Es gibt keinen Altersunterschied. Der Altersunterschied kommt erst später, als sie sich zurückziehen, in das Zimmer mit den Büchern und Spiegeln. Der Blick auf Ovids Metamorphosen, auf Abaelard und Heloise, der Blick auf sich selbst und mit den Augen der Anderen. Ist der Altersunterschied wider die Natur? Ist der Übergang eine Erfindung der Tropen? Muss diese Liebe scheitern? Die Natur ist nicht mal grausam, sie sagt nichts, wenn sie die Liebenden einholt, den Schwelgenden ins Bodenlose reißt. Und gesetzt, dass die Literatur dem Altern die Stirn bietet, dass sich die Schrift gegen das Kontinuum der Zeit erhebt – das Buch über das Glück muss, wie der Erzähler einräumt, ein Kurzes und Fragmentarisches sein. Es gibt keine Tiefe im Glück. Das Übergangslose, Neben-sich-Stehende ist Espedals erzählerisches Aufgebot, eine Absage an den Entwicklungsroman und das Imago von Erfahrungen, an denen man reift. Er erzählt nicht, wie alles kam. Er erzählt, wie man trotz aller Verwüstungen, Verwerfungen hin und her geschleudert, unweigerlich der bleibt, dem man zu entkommen sucht: ein Verlassener. Plötzlich findet sich der Heranwachsende, der nie arbeiten wollte, wie sein Vater schuftend in einer Weberei. Er liegt unter den Webstühlen und schneidet die Fäden von den Wellen. Er schmiert die Wellen, Öl und Paraffin ruinieren sein Gesicht. Er wartet die Maschinen ohne zu wissen, wie die Maschinen funktionieren, ahnend, dass ihm das Räderwerk ein Leben überstülpt und über ihn hinwegwebt. Die erste Liebe ein Fluchtpunkt. Er schreibt Bücher. Die unverhoffte Wiederbegegnung mit der Schauspielerin Agnete eine Erosion. Hals über Kopf ist er verheiratet und Vater einer Tochter. Hals über Kopf folgt er Agnete ins sandinistische Nicaragua. Sieht sich bei Nacht und Nebel den Kinderwagen durch Bürgerkriegsstraßen schiebend, verbarrikadiert in verwaisten Villen, unter Deck auf hoher See, während die Schauspieltruppe über ihren Köpfen Brechts Dreigroschen-Oper aufführt. Zurück auf norwegischem Boden bringt Agnete eine weiteres Kind von einem anderen zu Welt und verstirbt kurz darauf. Er ist mit der Tochter im Haus allein. Die stürmische Begegnung mit Janne endet, bevor sie beginnt: „Wir lernten einander auf einem Fest kennen In einer Silvesternacht. Die glückliche Sprache ist in jeder Weise einfach und brutal: Sie war die schönste junge Frau, die ich je gesehen hatte. Die glückliche Sprache ist vielleicht unbequem: Sie sah mich als älteren Mann.“ Sie lesen. Sie schreiben. Sie lieben sich. Nach sechs unbeschreiblich glücklichen Jahren verlässt sie ihn. Sie ist jung und will noch so viel erleben, Erfahrungen machen, wie er sie auch gemacht hat. Der furchtbare Altersunterschied, schreibt sie. Das Schlimmste, wenn der Liebeskummer vergeht. Aber dieser Liebeskummer endet nicht. Vielleicht kann man dieses Buch, vor allem die Notizen des Verlassenen, kein zweites Mal verwinden. Sie halten jene berüchtigten Brandraketen bereit, die den späten Goethe davon abhielten, seinen Werther nochmal aufzuschlagen. Und vielleicht darf man über Espedals großartiges, unendlich trauriges Buch vom kurzen Glück die Beherrschung verlieren und eine Gleichung wagen: Große Literatur = wider die Natur.

Tomas Espedal: Wider die Natur. Aus dem Norwegischen v. H. Schmidt-Henkel. Matthes & Seitz, Berlin 2014; 180 S., 19,90 €

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