Wolfgang Herrndorf : Arbeit und Struktur

Wolfgang Herrndorf : Arbeit und Struktur


Als Wolfgang Herrndorf Im März 2010 erfährt, dass ein bösartiger Tumor in seinem Kopf wächst und ihm noch fünf Lebensmonate bleiben, beginnt er einen Wettlauf gegen die Zeit. Er stürzt sich in Arbeit, schreibt „dreimal so schnell“ und täglich bis zu sechzehn Stunden. Es werden knapp drei Jahre, die er nachfolgend als die „besten seines Lebens“ bezeichnen wird. Während er unter Hochdruck den Roman Tschick fertigstellt und einen neuen Roman Sand in Angriff nimmt, stellen ihm seine Freunde – zunächst ein privates, später dann öffentlich zugängliches Tagebuch-Blog ins Netz, in dem Herrndorf minutiös Gliobastom-Recherchen, das Fortschreiten der Krankheit, seine Ängste, seine Phantasien, seine Rückschläge, seine Träume und Hoffnungen notiert. Er will „Herr im eigenen Haus“ bleiben und beschafft sich mit einem Revolver eine „Exitstratgie“. Im August 2013 erschießt sich Wolfgang Herrndorf am Hohenzollernkanal in Berlin. Vor dieser ultima ratio eines selbstbestimmten Todes aber wachsen diese, jetzt als gebundenes Buch vorliegenden 430 Seiten, mit denen Herrndorf gegen den unaufhaltsamen Sprach- und Orientierungsverlust anschreibt, sich einer Krankheit entgegenstemmt, die ihn zunehmend zerstört. Nur schreibend kann er das Raumgreifende des Tumors auf Distanz – nur schreiend sich die schamlos gut gemeinten Ratschläge und esoterischen Krebsheiler vom Leib halten. Authentizität und Betroffenheit mögen nie ein Gütesigel für gute Literatur gewesen sein. In diesem Schreiben jedoch erweist sich jede Zeile als (über)lebensnotwendige Exit-Strategie eines handwerklich versierten Schriftstellers. Dass Wolfgang Herrndorf nach jeder OP, nach jedem MRT, nach jeder Strahlenbehandlung und Prognose von Doktor „eins bis vier“ nicht vollständig die Fassung verliert, dass und wie er das Unfassbare des eigenen Sterbens, den Sprachverlust bei vollem Bewusstsein, selbstironisch, zynisch und bar jeder Larmoyanz aufschreibt, dieses bewundernswerte literarische Testament wird jeden Leser berühren. Arbeit und Struktur.

Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur. Rowohlt Verlag, Berlin 2013, Gebunden, 448 Seiten, 19,95 EUR

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