Jochen Schmidt : Schneckenmühle

Jochen Schmidt : Schneckenmühle


Jochen Schmidt_SchneckenmühleIm Herz der Finsternis, an der schwach beleuchteten Strecke zwischen Pirna und Liebstadt, mitten im Wald und unweit der tschechischen Grenze gibt es einen Ort, an dem die Zeit noch stiller steht: die Schneckenmühle. Fraglich, ob es hier je eine Mühle gegeben hat. Irgendwo vielleicht ein träges, morsches Wasserrad, das im Bachlauf dümpelt? Schnecken zuhauf. Das gleichnamige Hüttenlager der ehemaligen DDR ist alljährliches Ferienziel von Großstadtjugendlichen, die Morgenappell und ideologischen Regelklimbim in Kauf nehmend deswegen gerne wiederkommen, weil es hier etwas lockerer zugeht und sie (noch) ungestört im Dunkeln tappen. Rigoros ziellos, sprunghaft und mit der Taktilität eines Nachtwanderers erzählt der Autor aus der Perspektive des 14-jährigen Jens, der im Sommer 1989 zum letzten Mal die Schneckenmühle besuchen wird. Für ihn und die anderen Heranwachsenden ist es Doppelwendezeit. Sie stehen mitten im Zentrum neben sich, tasten sich vor, berühren einander und weichen zurück. Die großen politischen Ereignisse werden zwar wahrgenommen, aber sie ziehen wie Schatten vorbei. Die linientreuen Gruppenleiter schauen heimlich Westfernsehen, brechen nacheinander weg und werden über Nacht zu Republikflüchtigen. Ihre Aufrichtigkeit im Wetteifer mit der Frage: „Wie steh ich jetzt da?“ Das feine Gespür für Situationen, die man nie vergessen, Grausamkeiten, die einen für immer prägen werden, unerfüllte Wünsche, wie geht Tanzen? Wer kennt die ekligste Geschichte? Bist du verliebt? – das sind die wirklich wichtigen Themen. Auch wer keine DDR-Jugend zu verzeichnen hat, weder Skatregeln noch den Ost-Jargon beherrscht, wird sich diesem Kaleidoskop an Fragen, Gedanken und Flausen, wird sich der Schneckenmühle nicht mehr entziehen können. Orientierung verstanden als Transit, als Erinnerungskoordinaten, in denen man sich allererst verlaufen können muss, wurde nie besser, nie präziser beschrieben. Wenn Jochen Schmidt es nicht gefunden hätte, müsste man dieses Genre erfinden.

Jochen Schmidt: Schneckenmühle. C.H. Beck Verlag, 220 Seiten, gebunden, 18,50 Euro

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