Karl Ove Knausgård : Leben

Karl Ove Knausgård : Leben


Über weite Strecken hinweg ist dieses Buch eine Zumutung. Warum tue ich mir das an? Ich weiß, wie man einen Kessel mit Wasser aufsetzt. Mir ist bekannt, dass Wasser nach einer gewissen Zeit kocht. Ich kenne die einzelnen Schritte, die notwendig sind, um einen Becher Kaffee aufzubrühen. Warum kann ich mich (wie hunderttausend andere Leser) dem Weiterlesen von immerhin 700 Seiten nicht entziehen? Und was wird hier eigentlich erzählt? Nach seinem Abitur und einem Kurzaufenthalt in einer Nervenklinik weiß der Ich-Erzähler nichts Besseres mit sich anzufangen als im Norden Norwegens eine Stelle als Aushilfslehrer anzutreten. Er ist volljährig und hat noch nie mit einem Mädchen geschlafen.

Ein trinkfester Achtzehnjähriger mit schriftstellerischen Ambitionen, der einen Lehrerjob annimmt und bei den Mädchen endlich zum Schuss kommen will? Die Frage, ob man das lesen muss, kann nur jemand stellen, dem das Knausgård-Universum fremd ist oder der von seinem Bürovorsteher aufgeschreckt diesem Rede und Antwort stehen soll, warum man den ganzen Tag nur gelesen hat. Das Lesen selbst folgt einer anderen Zeitrechnung, dem Bewusstseins- und Erfahrungsstrom einer erzählten, wiedergefundenen Zeit des Autors. Leben ist der vierte, glücklicherer Weise nicht abschließende Band eines mikrobiographischen Romanprojekts, das Karl Ove Knausgård durchgehend als „Min Kamp“ (Mein Kampf) betitelt hat. Was bei Marcel Proust die Recherche – ein Vergleich, dem das knausgårdsche Œvre ohne Weiteres standhält – die stete Refiguration des eigenen Erlebens, ist bei Knausgård ein detaillversessener Kampf gegen das Vergessen, die Rückeroberung der Orte und Stimmungen, die das dichterische Ich konstituieren. „Schreiben“, so der Autor, „heißt, das Existierende aus den Schatten dessen zu ziehen, was wir wissen. […] Es geht nicht darum, was dort geschieht, nicht welche Dinge sich dort ereignen, sondern es geht um das Dort an sich. Dort ist der Ort und das Ziel des Schreibens.“ Besser kann man dieses poetologische Verfahren, ja, das Geheimnis von Literatur, die ohne jeden Plot auskommt, und der man, einmal angefangen, restlos verfällt, nicht erklären.

Karl Ove Knausgård: Leben. Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg. Luchterhand Literaturverlag; 624 Seiten, 22,99 Euro.

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