Orhan Pamuk : Die Unschuld der Dinge

Orhan Pamuk : Die Unschuld der Dinge


Geschichten sind der Stoff, aus dem Geschichte gemacht wird. Orhan Pamuk erzählt die Geschichte zu seinem im April 2012 eröffneten Museum, das seine eigene Geschichte erzählt, die wiederum aus einer unabschließbaren Verweiskette von Geschichten besteht. Die wunderbare Idee zu einem Roman, den man betreten kann, und einem Museum, das man kapitelweise lesen und in dem man sich verlieren kann, entsteht anlässlich eines Familientreffens, bei dem Pamuk Ali Vâsib Efendi kennenlernt. Der Osmanenprinz kommt aus seinem 50-jährigen Exil, ist völlig verarmt und braucht dringend einen Job. Jemand schlägt vor, dass der Efendi in seinem einstigen Wohnsitz, dem Ihlamur-Pavillon, zugleich als Museumsführer und Ausstellungsstück arbeiten könne. Pamuk stellt sich vor, wie es ist, „wenn ein Mensch nach vielen Jahren in einem Museum anhand von Gegenständen erläutert, wie er einst gelebt hat.“ Anfang der Neunziger Jahre beginnt der Autor damit, bei Freunden und Verwandten, bei Trödelhändlern und auf Dachböden Dinge zu sammeln. Aus zunächst wenigen Dekorations- und Alltagsgegenständen, Fotos, Postkarten, Filmplakaten, Spielzeugen und Uhren wächst allmählich eine unüberschaubare Sammlung von Gebrauchsgegenständen, Kitsch, Klimbim und Müll heran, deren Unterbringung immer schwieriger wird. Parallel dazu entwickelt Pamuk seinen gleichnamigen Roman, die Liebesgeschichte von Kemal, der durch seine Liebe zu Füsun unwillkürlich auf seine bikulturellen Wurzeln zurückfällt, den Konflikt zwischen osmanisch-orientalischer Tradition und jener von Kemal Atatürk als Moderne maskierten Turbo-Verwestlichung. Alle Dinge, die Füsun berührt, werden für Kemal zu Reliquien, die er akribisch sammelt: vom Taschentuch über die Mokkatasse bis hin zur profanen Zigarettenkippe. Einen ganzen Sommer lang bringt Pamuk 2011 damit zu, Sätze unter 4213 Zigarettenstummel zu schreiben, die Füsun geraucht hat und die Kemal im Museumseingang gegen die Verflüchtigung ausgestellt wissen wollte. Ebenso einen Videofilm, der die unterschiedlichen Physiognomien von Füsuns Rauchen darstellt.

Noch bevor es zur Sammlung und zum Gesamtkunstwerk avanciert, ist das Aufheben und Notieren, das Arrangieren von Gegenständen wie das Schreiben, ein solches stilles Gefecht gegen die Zeit, die unwiderbringlich verloren scheint. Den tiefsten Trieb des Sammlers, nennt Walter Benjamin daher: die alte Welt erneuern. Nichts jedoch läge Pamuk ferner, als das alte Istanbul oder bloße Aperçus eines Romans in eine Vitrine zu stellen. In einem staatlich repräsentativen Nationalmuseum hätten die Dinge ihre Unschuld verloren. Mag die Komplettierung der Sammlung das erklärte Ziel jedes enzyklopädischen Sammlers sein. Pamuks Museum wie seine Romane hingegen streben gegen Vollendung. Immer wird noch etwas hinzugefügt werden. Wie etwas, das jenseits seiner vorgesehenen Lebenszeit tickt, stetig rarer und bewundernswerter wird und altert, während alles Gebräuchliche ringsherum zerfällt, wird dieses Museum mit jedem Schlag jünger, weil es als Provisorium vom lesenden Besucher ergänzt wird. Dort, wo wir gut aufgehoben und die Dinge aus ihrer planen Gleichgültigkeit gehoben sind, sieht Pamuk die Zukunft der Museen: in unseren Wohnungen und Häusern. Dieser Glücksfund gehört zu den schönsten Büchern des Jahres und ins Handgepäck jedes Istanbulreisenden.

Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge. Das Museum der Unschuld in Istanbul. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. 260 Seiten, Hanser Verlag 2012, 38,- EUR.

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