Patrick Modiano : Der Horizont

Patrick Modiano : Der Horizont


Modiano_23951_MR.inddUnsere Vergangenheit ist dunkle Materie. Der unsichtbare Teil unseres Lebens ist ungleich größer als der sichtbare. Das nicht Gelebte ist unendlich: „kurze Begegnungen, verpasste Rendezvous, verlorene Briefe, Vornamen und Telefonnummern, die in einem alten Taschenkalender stehen und die man vergessen hat, und all die Frauen und Männer, deren Wege man gekreuzt hat, ohne es überhaupt zu wissen.“ Schwindel erfasst denjenigen, der seine Gedanken auf das richtet, „was hätte sein können und nicht gewesen war“. Patrick Modianos Roman erzählt von Jean Bosmans, der den Versuch unternimmt, Licht in die dunkle Materie seiner Vergangenheit zu bringen, um festzustellen, dass es kein Ganzes gibt, „nur Splitter, Sternenstaub“. Vor Vierzig Jahren begegnete Jean in Paris einer jungen Frau, Margaret Le Coz, die wie er ohne Halt, ohne Familie, ohne Zuflucht ist. Beide sind auf der Suche nach einem „Horizont“, der herauszuführen verspricht aus dieser Verlorenheit und zugleich nichts anderes ist als das Synonym für jene Verluste, die den Berg der unsichtbaren Materie unerbittlich weiter anwachsen lassen. Margaret, von der der Erzähler sagt, dass sie immer Freude empfand, „wenn es ans Abschiednehmen ging“, die sich im Leben „mit wilden Sprüngen“ bewegt ohne Angst vor den „Brüchen“, die diese bedeuten, wird aus unerfindlichen Gründen (ein Geheimnis mehr, das der Roman glücklicherweise nicht lüftet) Paris Hals über Kopf verlassen, um nach Berlin zu fliehen (und sich nie wieder bei Jean zu melden), wo Jean sie aber 40 Jahre später in einer Buchhandlung (vielleicht, der Roman verrät es uns nicht wirklich) wiederfinden wird. Erinnern und Vergessen. Damit sind die beiden Kraftfelder benannt, die das gesamte Werk Patrick Modianios prägen. Vielleicht ist es nicht vermessen zu behaupten, dass Patrick Modiano in seinem jüngsten Roman eine subtile und im wahrsten Sinne des Wortes „Schwindel“ erregende Theorie der Zeit entfaltet – und auf diese Weise an dem einen Buch weiterschreibt, das all seine Bücher bilden. Von Jean Bosmans heißt es an einer Stelle: „Seither hatte er über zwanzig Bücher geschrieben (…) Doch was hatte sich wirklich verändert? Es waren immer die gleichen Wörter, die gleichen Bücher, die gleichen Metrostationen.“ Die sogenannte Gegenwart ist keine und kann keine sein, da sie immer schon wie verhext unter dem Bann einer geheimnisvollen, unverstandenen und unerlösten Vergangenheit steht, die sich damit als „ewige Gegenwart“ unendlich verlängert, so dass das Erinnern zu einer genauso paradoxen wie unmöglichen Aufgabe wird. Die Geheimnisse der Vergangenheit führen dazu, dass die Gegenwart nicht anders als „unheimlich“ erlebt werden kann. Der Horizont der Zukunft aber, für den die Gegenwart vermeintlich nur Durchgangsstation ist, und der das eigene Leben eröffnen könnte, ist notwendig Verlust all dessen, was hätte sein können. Vergessen wäre vielleicht ein Ausweg, wenn es paradoxerweise die dunkle Materie des eigenen Lebens nicht ins Unendliche steigern würde. Zukunft (als Potenz oder Möglichkeit eines anderen Lebens) ist also nur zu haben, wenn es uns gelingt, unsere Vergangenheit uns anzueignen, gleichwohl wissend, dass das „Ganze“ eben nicht zu haben ist. Nur „Splitter, Sternenstaub“, „Erinnerungen in Gestalt treibender Wolken“. Wer keine Angst vor diesem Schwindel hat, dem sei dieser Roman sehr ans Herz gelegt.

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