Peter Stamm : Nacht ist der Tag
Die Leser seien gewarnt: Hier kommt der mit Abstand kälteste, beunruhigenste und schwärzeste Roman der Saison. Peter Stamm erzählt die Geschichte von Gillian und Hubert. Von Astrid, Rolf und Matthias. Bereits die Namen geben Anlass zur Sorge. Der Roman beginnt mitten drin: Gillian, eine erfolgreiche Kulturfernsehredakteurin, erwacht nach einem schweren Autounfall im Krankenhaus, auf der Station für plastische Chirurgie. Ihr Gesicht ist zerstört. Ihr Mann, der am Steuer saß, tot. Allmählich kehren ihre Erinnerungen zurück. Mit der Rekonstruktion ihres Gesichts beginnt die Rekonstruktion der Geschichte. Es ist die Geschichte einer Frau, die sich bei aller Kamerafestigkeit kaum spürt, kaum wahrnimmt. Vor dem Unfall hat sie den Maler Hubert bei einem Interview kennengelernt. Der Künstler spricht Hausfrauen auf der Straße an, um von ihnen Nacktaufnahmen und Aktzeichnungen anzufertigen. Die Ausstellung ist ein kleiner Erfolg. Auch Gillian wünscht sich, dass einer wie Hubert sie malt. Sie will erkannt und gesehen werden, sehen, was ein anderer in ihr sieht. Doch da ist nichts. Als ihre Posen im Atelier misslingen, versucht sie Hubert zu verführen. Doch Hubert liebt seine schwangere Freundin Astrid und weist sie ab.
Trotz wiederhergestellten Gesichts kehrt Gillian nicht in ihren Beruf zurück. Stattdessen zieht sie in das geschmacklos eingerichtete Ferienhaus ihrer Eltern im Engadin. Sie nennt sich jetzt Jill und arbeitet als Animateurin in einem Clubhotel für deutsche Touristen, die sich duzend auf die Suche nach mythologischen Kraftzentren begeben. Hubert, von Astrid gegen einen esoterischen Coach namens Rolf eingetauscht und von jeglicher Inspiration verlassen, arbeitet inzwischen als Lehrbeauftragter an einer Kunstakademie. Jill fädelt ein, dass er zu einer Ausstellung eingeladen wird, die nicht stattfindet, weil Hubert absolut nichts vorbereitet hat. Nach einem Nervenzusammenbruch flüchtet sich Hubert zu Jill und macht wochenlang nichts. Er sieht sich die Landschaft an, schmökert in von Ferienhausgästen zurück gelassenen Büchern und gibt angelesene Lebensweisheiten zum Besten. Auf dem Höhepunkt dieser kaum erträglichen Mediokrität folgender Dialog:
„Dein Schicksal kannst du lieben, sogar wenn es ein bitteres ist, las Hubert. Findest du, das stimmt?
Du könntest den Salat waschen, sagte Jill.“
Mit seinem Schicksal versöhnt, erteilt Hubert den Feriengästen Zeichenkurse und scheint sogar den deftig-burlesken Bühnenstücken, bei denen sich Jill in der Nebenrolle einen Nachttopf übers Dirndl kippen lässt, etwas abgewinnen zu können. Als Astrid und ihr gemeinsamer Sohn Lukas wieder auf der Bildfläche erscheinen, kehrt Hubert zu seiner Familie zurück. Zurück bleibt Jill. Zurück bleibt der Leser. Am hellichten Tage ratlos umfangen im Gewebe der Nacht. Unter der Schraffur dieses Gewebes keine sinnstiftende Kontur, kein Trost, kein Bildnis. Nur einsame Nacktheit. Peter Stamm bleibt konsequent, hautnah an der Oberfläche seiner Figuren. Oberflächlich aus einer tiefen Dämmerung, in die der Leser eingetaucht wird. Etwas von dieser Erbärmlichkeit steckt in uns allen.
Peter Stamm: Nacht ist der Tag. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013, gebunden, 256 Seiten, 19,99 EUR