Henri Thomas: Der Meineid

Henri Thomas: Der Meineid


Die Geschichte ist so: Der angehende Literaturwissenschaftler Stéphan Charlier leidet unter einem Übervater, der als angesehener Literaturprofessor nicht müde wird, seinem Sohn zu attestieren, er habe „seinen Weg noch nicht gefunden“. Hals über Kopf wandert dieser nach Amerika aus, um dort über Romantik und Hölderlin zu arbeiten. Er schlägt sich als Erntehelfer und mit Gelegenheitsjobs durch, heiratet eine Frau, wird Vater, bekommt einen befristeten Lehrauftrag an der Uni. Er stiehlt sich halberblindet in eine Augenklink, als aufliegt, dass er bereits verheiratet war und eine Frau mit zwei Kindern in Belgien sitzen gelassen hat. Ab hier übernimmt ein Ich-Erzähler das Ruder. Es ist ein Zimmerkollege Charliers an der Westford-Universität. Anfangs noch skeptischer Chronist, erleben wir, wie er sich zunehmend in den Chalierschen Kauzigkeiten und Lesererwartungen verfängt. Als Charlier, von einer Ausländerkommision in Washington vorgeladen, kurzerhand verfügt: „Schreiben Sie mein lückenloses Geständnis und schicken Sie es an diese Quäkerin von der Hohen Kommission“, weigert sich der Ich-Erzähler zunächst standhaft mit den Worten. „Mein lieber Stéphan, ich bin es nicht, der am Tag Ihrer Hochzeit eine kleine Erinnerungslücke hatte.“ Im Stillen jedoch hat der Erzähler längst Notizen zur Verteidigung seines Freundes angefertigt. Aus den lückenhaften Auskünften Charliers entwickelt er eine scheinbar aussichtsreiche Verteidigungsstrategie, kommt dann jedoch mit keinem Wort mehr darauf zurück und sieht schlussendlich unter dem Einfluss Charlies die Unmöglichkeit jeder entschuldigenden Erklärung restlos ein. Die Irrfahrt endet auf Hag-Island, einer gottverlassenen Insel bei Maine. Charlier spricht nur noch selten, durchwatet wie ein blinder Seher und Hölderlinverse raunend die Schlamm und Blut getränkte Insel. Auf seinen Fersen stets das ratlose Erzähler-Ich, das mit Charlier „zu einem Narr“ verschmolzen, seinen Fiktionen von Schuld und Unschuld kaum mehr entrinnt.

Dass viele Stationen Chaliers angelehnt sind an das Leben des belgischen Literaturwissenschaftlers und Begründers des New Criticism Paul de Man, ist inzwischen weitgehend bekannt. Henri Thomas jedoch geht es um weit mehr als um ein biographisches Aperçu. Streckenweise liest sich dieser Roman wie eine fundamentale, ebenso düstere wie amüsante (z.T. auch anstrengende) Realisierung der Literaturtheorien de Mans. Ausgehend von der Dialektik logischer und rhetorischer Denkfiguren in den Kardinalstexten der Aufklärung haben de Man und Derrida an Rousseau, Kant und Hegel immer wieder vorgeführt, wie der rhethorische Gehalt die logischen Aussagen hintertreibt und auf eine Selbstdestruktion der Texte hinausläuft. In seiner Untersuchung Blindness and Insight hat de Man eindrucksvoll demonstriert, wie rhetorische Figuren notwendig den Gegenstand verdecken, den sie beschreiben wollen. Das exponierte Verfahren dieser Re-Lektüre, in den 70er Jahren unter dem Schlagwort „Dekonstruktion“ prominent geworden, wurde häufig falsch verstanden oder als akademische Sophisterei abgetan. Literarische Texte dagegen haben den Vorzug, dass sie sich ihrer Rhetorizität bewusst sind und nicht vorgeben, logisch zu sein. Sie sind wie Charlier auf mindestens einem Auge blind und spielen mit den trügerischen Instanzen auktorialer Beschreibung. Jeder Versuch – und das ist eine der ausgezeichneten Volten des vorliegenden Romans – die Wirklichkeit oder Sinnhaftigkeit des Geschehens zu fokussieren, erweist sich als narrative, rhetorische Finte des Textes selbst, indem er die Allegorien des Lesens meisterhaft inszeniert. Zuletzt entfliehen die Figuren der Hölleninsel. Auf einem Boot treiben die Protagonisten ins offene Meer hinaus und sind wie die Lokalzeitungen laut Auskunft des Erzähler-Ichs „ganz korrekt berichten: ein Spielzeug der Fluten“. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende. Natürlich nur vorläufig.

Henri Thomas: Der Meineid. Aus dem Französischen von Leopold Federmair. Klever Verlag, Wien 2012. 220 S., geb., 19,95 Euro.

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