Urs Faes : Sommer in Brandenburg

Urs Faes : Sommer in Brandenburg


Der Schweizer Autor Urs Faes eröffnet uns in seinem jüngsten Roman Sommer in Brandenburg ein bislang nahezu unbekanntes und wenig erforschtes Stück jüdischer Geschichte in Deutschland. Schauplatz des Romans ist das Landgut Ahrensdorf in der Nähe von Trebbin, das bis in den Spätsommer/Herbst 1939 eines von mehreren sogenannten Landwerken der Hachschara-Bewegung ist, die von der damals noch bestehenden Reichsvertretung der Juden gepachtet wurden, um Jugendliche auf das harte und entbehrungsreiche Leben als Pioniere in einem der neu gegründeten Kibuzzim in Palästina vorzubereiten – in der Hoffnung dem sich zuspitzenden Terror und der zunehmenden Verfolgung in Deutschland dadurch noch entkommen zu können. Sommer in Brandenburg erzählt vom strengen Tagesablauf der Jugendlichen im Landwerk, von der täglichen Arbeit in den Ställen und auf den Feldern, von der Hoffnung eines der begehrten Zertifikate zu erhalten, das die Ausreise zu diesem Zeitpunkt noch ermöglichte, zugleich von ihrer Angst vor dem Aufbruch in ein unbekanntes und unwirtliches Land mit all den Härten eines Lebens als Pionier in einem der neu gegründeten Kibuzzim. Im Mittelpunkt des Romans steht die Liebesgeschichte zwischen Ron Berend aus Hamburg und Lissy Harb aus Wien, deren Foto Urs Faes zufällig in den Hände fiel und Ausgangspunkt für seine Recherchen bildete, von denen der Autor in vier eingeschobenen mit „Nacherzählen“ überschrieben Kapiteln berichtet. Lissy gelingt es im Frühsommer 1939 noch Deutschland zu verlassen. Ron bleibt zurück bis das Landwerk im Herbst 1939 endgültig aufgelöst wird. Der Roman endet damit, dass die letzten verbliebenen Jugendlichen von der deutschen Polizei abgeholt werden und auf einem nicht näher benannten „Fahrzeug“ abtransportiert werden. Es ist nun nicht mehr von Auswanderung die Rede, sondern von „Abwanderung“ oder „Evakuierung“. Faes gelingt es, das Landwerk als einen im wahrsten Sinne streng abgezirkelten und umzäunten, von den Nationalsozialisten zunächst noch geduldeten Bereich darzustellen, in dem für kurze Zeit noch jüdisches Leben in Deutschland möglich zu sein und vor unmittelbarer Verfolgung noch Schutz zu finden möglich schien, wenn auch die Nachrichten, die das Landwerk von außen erreichen, immer bedrohlicher werden. Die Väter der Jugendlichen verschwinden in Konzentrationslagern. Einige kehren fürs Erste noch zurück, gebrochen. Die Schikanen nehmen zu. Es kommt zu Übergriffen. Was diesen Roman auszeichnet und im besten Sinne so irritierend-berührend macht, ist sein Erzählprinzip. Faes verzichtet konsequent darauf, das Geschehen auf dem Landgut in ein größeres historisches Bild einzuzeichnen. Erzählt wird nur das Tägliche und Unmittelbare: Der Ablauf eines konkreten Tages im Landwerk. Die täglichen Verrichtungen und Rituale. Das abendliche Beisammensein in der Bibliothek des Landwerks. Die spärlichen Nachrichten, die von Angehörigen oder Freunden eintreffen und irgendwann nicht mehr eintreffen. Die Eltern oder Angehörigen, die plötzlich nicht mehr erreichbar sind. Die Abreise einzelner und die Ankunft neuer Chawerim. Die eigentliche Leistung und das Bedrohliche dieses Romans rühren von dem, wovon er vorsätzlich nicht erzählt und was die Vorstellungskraft dieser Jugendlichen (noch) zu übersteigen scheint. Indem der Roman uns einen genau datierten Ausschnitt des Lebens dieser jungen Menschen in den Jahren 1938/39 präsentiert, macht er in irritierender und glaubhafter Weise erfahrbar, was es bedeutet haben muss, verfolgt, ausgegrenzt und entrechtet worden zu sein, ohne sich aber schon den millionenfachen Mord vorstellen zu können, von dem wir heute sogenannte Kenntnis haben.

Urs Faes: »Sommer in Brandenburg«. Roman. Suhrkamp, Berlin 2014, 292 S., 19,95 €

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